Vorurteilskriminalität und das Erfassungssystem von politisch motivierter Kriminalität

Teilprojekt Vorurteilskriminalität

Vorurteilskriminalität, auch vorurteilsmotivierte Kriminalität oder Hasskriminalität genannt, ist gekennzeichnet durch das Vorliegen einer kriminellen Handlung mit vorurteilsgeleiteter Motivation der Täter oder Täterinnen. Diese Motivation richtet sich gegen bestimmte Opfermerkmale wie Nationalität, Religion, sexuelle Identität oder sozialen Status. Vorurteilskriminalität hat Auswirkungen auf das individuelle Opfer und die gesamte Opfergruppe. In Deutschland wird Vorurteilskriminalität durch den kriminalpolizeilichen Meldedienst in Fällen politisch motivierter Kriminalität (KPMD-PMK) erfasst. Dabei werden Straftaten dem Oberthemenbereich „Hasskriminalität“ zugeordnet. Bundesweit stieg die hier registrierte Hasskriminalität von 10.240 Fälle (im Jahr 2020) auf 10.501 Fälle (im Jahr 2021) um 2,55%. Mit spezifischem Blick auf Sachsen ist ein deutlicherer Anstieg zu verzeichnen. So stieg die registrierte Hasskriminalität im Jahr 2021 (664 Fälle) um 14,88% im Vergleich zum Vorjahr (2020: 578 Fälle; vgl. 21/22 Periodischer Sicherheitsbericht: Freistaat Sachsen, 2023).

Studien weisen auf verheerende Auswirkungen von vorurteilsmotivierter Kriminalität für unmittelbar Betroffene hin. So zeigen Ergebnisse, dass Betroffene von vorurteilgeleiteten Straftaten ein signifikant höheres Unsicherheitsempfinden, eine erhöhte Kriminalitätsfurcht, ein verringertes zwischenmenschlichen Vertrauen, ein verringertes Anzeigeverhalten sowie ein geringeres Vertrauen in politische und staatliche Institutionen vorweisen, als Opfer vergleichbarer Straftaten ohne Vorurteilsmotiv beziehungsweise als Personen ohne Opfererfahrung (u.a. Bender & Weber, 2023; Church & Coester, 2021; Dreißigacker, 2018; Groß et al., 2018; Landeskriminalamt Niedersachsen, 2018). Expert:innen betonen, dass Vorurteilskriminalität nicht nur auf die unmittelbar Betroffenen abzielt, sondern auch eine Zustimmung oder Aufforderung von Gleichgesinnten impliziert. Weiterhin sendet diese Kriminalität eine einschüchternde Botschaft der Ablehnung an die gesamte Opfergruppe, beeinflusst so das soziale Gefüge demokratischer Staaten und hebt den politischen sowie gesamtgesellschaftlichen Bezug solcher Taten hervor (u.a. Coester, 2008; Perry, 2014).

Aufgrund der kontinuierlich steigenden Zahlen von Vorurteilskriminalität, ihren negativen Auswirkungen auf die Opfer selbst sowie der gesamtgesellschaftlichen Relevanz durch ihren Botschaftscharakter soll in dem geplanten Projekt interdisziplinär das Phänomen Vorurteilskriminalität sowie dessen Wirkung auf verschiedene Gruppen der Gesellschaft erforscht werden. Mithilfe von Befragungen sowie experimentellen Studien sollen u.a. Prozesse von kollektiver Viktimisierung und Solidarisierungsprozesse untersucht werden. Dabei sollen Fragen beantwortet werden wie: Welche Wirkung hat Vorurteilskriminalität auf nicht unmittelbar Beteiligte? Wie wirkt sich Vorurteilskriminalität auf gesellschaftliche Normen aus? Durch welche Prozesse findet eine Viktimisierung der gesamten Opfergruppe statt? Unter welchen Umständen solidarisieren sich Menschen mit dem Opfer und der Opfergruppe?

Teilprojekt: Das Erfassungssystem von politisch motivierter Kriminalität

Im Freistaat Sachsen zeigt sich, dass im Jahr 2021 insgesamt 1.816 Straftaten der politisch motivierten Kriminalität – Rechts (PMK-Rechts) zugeordnet wurden. Im Vergleich mit anderen Bundesländern weist Sachsen „besonders hohe PMK-Zahlen“ (Freistaat Sachsen, 2023, S. 269) auf und ist „mit dieser Kriminalitätsform stärker konfrontiert im Vergleich zu den meisten anderen Bundesländer“ (Freistaat Sachsen, 2023, S. 269). In Sachsen beläuft sich die „Häufigkeitszahl für PMK im Jahr 2021 auf 118,2 Straftaten je 1000.000 Einwohner[:innen] (…) und ist damit 1,8 mal so hoch wie im Bundesschnitt [66,2]“ (Freistaat Sachsen, 2023, S. 270). Trotz des Rücklaufs von PMK-Straftaten zeigt sich, dass die Bedrohung Opfer eines PMK-Deliktes zu werden, allgegenwärtig ist. Die RAA Sachsen hat festgestellt, dass im Jahr 2022 „205 rechts motivierte Angriffe (…) [gezählt wurden] von denen mindestens 314 Menschen direkt betroffen“ (RAA Sachsen, 2023) gewesen sind. Auf ganz Sachsen bezogen zeigen sich räumliche Häufungen von PMK-Rechts Delikten besonders um Dresden und Leipzig sowie Chemnitz (RAA Sachsen, 2023). Doch auch in anderen Landkreisen ist es zu einer Erhöhung von rechtsmotivierten Angriffen gekommen, sodass die RAA Sachsen von einer sog. „gewalttätigen rechte[n] Raumnahme“ (RAA Sachsen, 2023) spricht. Trotz des oben genannten Rücklaufs, hat sich das Personenpotenzial von Rechtsextremist:innen über die Jahre 2014 (2.500) bis 2021 (4.350) dagegen erhöht (Staatsministerium des Innern, 2021, S. 35).

Bereits seit Jahren kritisiert die Zivilgesellschaft, dass eine große Zahl an Gewalttaten nicht als politisch rechts anerkannt wird, obwohl die Tatumstände darauf hindeuten. Vergangene Studien (u.a. Quent et al., 2018) zeigen, dass sich Opfer rechter Gewalt z.B. von der Polizei oft nicht ernst genommen fühlen und den Eindruck haben, die Organe der Justiz seien nicht an der Aufklärung der politischen Motive der Tat interessiert. Durch Fehlreaktionen des sozialen Umfelds und/oder Instanzen der formellen Sozialkontrolle nach der primären Viktimisierung, die unmittelbar durch die Tat entsteht, kann eine sekundäre Viktimisierung entstehen. Die Betroffenen fühlen sich, als ob sie noch einmal zum Opfer geworden sind. Daher soll sich dieses Teilprojekt in einer Kooperation mit der Opferberatungsstelle „Support“ Chemnitz der RAA Sachsen e.V mit den Erfahrungen und Wahrnehmungen von Menschen in Sachsen, die von rechter Gewalt betroffen sind, beschäftigen. Hierbei wird insbesondere ein Blick auf primäre und sekundäre Viktimisierungsprozesse geworfen.

Die vermeintlich zu selten stattfindende Anerkennung eines politisch rechten Tatmotivs bei Straftaten macht sich insbesondere in der großen Diskrepanz von Zahlen zu rechten Tötungsdelikten von staatlichen Behörden und von unabhängigen Organisationen sowie Journalist:innen bemerkbar. Der Tagesspiegel (Kleffner et al., 2020), die Amadeu Antonio-Stiftung (o.D.) sowie Wissenschaftler:innen (u.a. Dierbach, 2016; Lang, 2014; Singer, 2004; Sandvoß, 2008) weisen in besonderer Weise auf die Unstimmigkeiten zwischen offiziell und der Existenz von (noch nicht) anerkannten Alt-Fällen vergangener Jahre, die einer Neubewertung bedürfen, hin. In der sog. „Jansen-Liste“ sprechen Die Zeit & Der Tagesspiegel in dem Zeitraum von 1990 bis 2020 von 187 Todesopfern rechter Gewalt (Kleffner et al., 2020). Das sog. Opferarchiv der Amadeu Antonio Stiftung beziffert für den gleichen Zeitraum 219 Tötungsdelikte, die im Zusammenhang mit rechter Gewalt stehen sowie 16 Verdachtsfälle (Amadeu Antonio Stiftung, o.D.). Offizielle Zahlen der Sicherheitsbehörden sprechen dagegen von 113 Fällen, die als PMK-Rechts eingestuft werden (Amadeu Antonio Stiftung, o.D.). Im Freistaat Sachsen liegen für den Zeitraum von 1990 bis 2018 19 Fälle rechter Gewalt vor: 12 davon sind staatlich anerkannt. Sieben Fälle sind dagegen noch nicht als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt und eingestuft (Amadeu Antonio Stiftung, o.D.) worden und bedürfen daher einer wissenschaftlichen Überprüfung und ggfs. einer Neukategorisierung.

Daher soll in diesem Teilprojekt des ZKFS das polizeiliche Meldesystem PMK-Rechts (Themenfeldkatalog PMK-Rechts) auf mögliche Defizite und Optimierungspotenziale untersucht werden. Ebenfalls soll ein von der RAA Sachsen entwickeltes Definitionssystem zur Einordnung von Tötungsdelikten auf seine Anwendbarkeit geprüft werden. Des Weiteren soll der Oberthemenbereich „Hasskriminalität“ sowie der Bereich „nicht zuzuordnen“ näher betrachtet und anwendungsorientiert für die Polizeien optimiert werden. Ein evidentes Definitionssystem kann letztlich insbesondere für Polizei und Justizsystem zu einer verbesserten Einschätzung politisch rechter Gewaltverbrechen beitragen sowie den Opfern und ihren Angehörigen die nötige Anerkennung schenken und sie so idealerweise vor weiteren Viktimisierungserfahrungen bewahren. Dieses Teilprojekt orientiert sich an der Empfehlung des NSU-Untersuchungsausschusses aus dem Jahr 2013, in der sich die Politik dafür ausspricht eine notwendige „grundlegende Überarbeitung des ‚Themenfeldkatalogs PMK‘ – unter Hinzuziehung von Expertenwissen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft“ (Deutscher Bundestag, 2013, S. 861) anzustreben. Darüber hinaus soll aus rechtswissenschaftlicher Perspektive Altfälle von Tötungsdelikten politisch rechter Gewalt aus Sachsen überprüft werden.

Projektpartner:

Opferberatungsstelle „Support“ der RAA Sachsen

Assoziierte Partner:

Landeskriminalamt Sachsen – Zentrale Ansprechstelle für Opfer (rechts-)extremistischer Bedrohungen (ZASTEX),

Polizeidirektion Chemnitz,  

Prof. Dr. Marc Coester, Professur für Kriminologie, Fachbereich 5: Polizei und Sicherheitsmanagement. Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin

Prof. Dr. Walter Georg Fuchs, Professur für Kriminologie, FB. 5 Polizei & Sicherheitsmanagement. Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin

Prof. Dr. Eva Groß, Hochschule in der Akademie der Polizei Hamburg, Professur für Kriminologie/Soziologie

Prof. Dr. Mathias Kauff, Professor für Sozialpsychologie. Medical School Hamburg

 

Projektleitungen: Kristin Weber und Rowenia Bender