ZKFS Kolloquium am 01.08.2022 – Graffiti: Devianz, Identität und die moderne Stadt

01.08.2022 um 16:30 Uhr
Karl-Liebknecht-Straße 29, 09111 Chemnitz
(Präsenzteilnahme nur mit Voranmeldung an aaron.bielejewski@zkfs.de)

Zoom-URL: https://us06web.zoom.us/j/86937711401?pwd=dkxIYW43T3p5N2RHeUtqOTBhYXBrQT09

„Graffiti in der Praxis – was es ist, sein könnte und sein möchte“ (Gerrit Retterath)

„‘If Graffiti changed anything, it would be illegal’ Wahrnehmung von politischem Graffiti und deren Wirkung auf die Beurteilung von Wohngebieten” (Claas Pollmanns)

 

Hintergrund:

Graffiti wird oft als ein eindeutig modernes Phänomen betrachtet, oft als Zeichen des städtischen Verfalls, doch Anthropologen und Historiker haben verschiedene Formen von Graffiti in so gut wie allen menschlichen Gesellschaften durch alle historischen Epochen identifiziert. (Keegan 2014) Die Erzählungen, die wir über Graffiti und ihre verschiedenen Verwendungszwecke wie öffentliche Kommunikation, Eigenwerbung, künstlerischer Ausdruck, politische Aussagen und Markierung von Territorium erzählen, spiegeln unser eigenes Verständnis davon wider, wie die Gesellschaft funktioniert und wem die Straßen im Wesentlichen gehören. (Temeschinko 2015) Graffiti hat insbesondere in der Kriminologie und der Polizeiwissenschaft eine übergeordnete Rolle gespielt: Einige haben Graffiti im Wesentlichen als „Gateway“ für schwerwiegendere Straftaten wie Einbrüche angesehen, oft mit der Annahme, dass die Herstellung von Graffiti die Beteiligung an abweichenden Subkulturen erfordert oder zumindest fördert (Taylor et al. 2012), während Etikettierungstheoretiker und kulturelle Kriminologen die Kriminalisierung von Graffiti (neben anderen Formen des „Urban Expressions“) als einen Zyklus des Ausschlusses von den Möglichkeiten des Mainstreams ansehen, da Graffiti oft mit Gang-Beteiligung und gewalttätigem Verhalten in Verbindung gebracht wird. (vgl. Bloch 2019) Graffiti wurde im Broken-Windows-Modell der Polizeiarbeit, das die in den USA sowohl auch in Deutschland vorherrschenden Community-Policing-Initiativen geleitet hat, besonders als „Unordnung“ hervorgehoben, ein Punkt, der oft kritisiert wurde, weil er die Bedeutung, wenn nicht gar die Unvermeidbarkeit von Graffiti in städtischen Umgebungen missversteht.

Graffiti bewegen sich oft im Spannungsfeld zwischen Vandalismus, politischer Partizipation und Kunst. Die Frage nach dem „beabsichtigten Publikum“ wird häufig durch lokale Verordnungen oder Gesetze sowie durch Maßnahmen der Exekutive überlagert, die eine Definitionshoheit vorgeben. Gleichzeitig spielen individuelle und gesellschaftliche Interpretationen von Graffiti eine sehr reale Rolle, die sogar über die „Absicht des Autors“ hinausgeht und sich – zu Recht – darauf auswirken kann, wie Nachbarschaften von Anwohnern und Besuchern wahrgenommen werden, und die einen sehr realen Einfluss auf Maßnahmen wie Immobilienwerte hat. Graffiti stellen Texte und Bilder dar, die unterschiedlich interpretiert werden können (auch von Sozialwissenschaftlern), aber auch oft auf „Codes“ und memetischen Phrasen beruhen, die sich der Interpretation durch „Mainstream“-Beobachter widersetzen (Lynn / Lea 2005), auch wenn viele Graffiti speziell an ein Zielpublikum gerichtet sind. Die Verwendung politischer Aussagen kann nicht nur zu Konflikten mit der Obrigkeit führen (z. B. bei der häufigen Verwendung des Slogans „ACAB“), sondern auch spalterische, asoziale, extremistische und rassistische Botschaften darstellen, einschließlich Inhalten (wie Hassreden), die unabhängig vom Ausdrucksmedium selbst illegal sein können. Die politische Ausrichtung und der „Gemeinschaftsgeist“ bestimmter Stadtviertel lassen sich nicht nur durch die Botschaften von Graffiti (sowie Aufklebern usw.) charakterisieren, sondern auch durch die Foren und Möglichkeiten, die ihre Präsentation ermöglichen – von verlassenen Gebäuden bis hin zu speziellen Graffiti-Flächen oder der Vorherrschaft von in Auftrag gegebenen öffentlichen Wandmalereien sowie der sozialen Organisation der Graffiti-Schreiber selbst, sei es durch Kunstkollektive oder einzelne Tagger. (Tophinke 2016) Was die Überschneidungen zwischen gelebter und beobachteter Erfahrung und dem öffentlichen Verständnis von Kriminalität, Abweichung und Subkultur betrifft, so sind nur wenige Aspekte so auffällig wie Graffiti.

Inhalt:

Die vom ZKFS veranstaltete Vortragsveranstaltung „Graffiti: Devianz, Identität und die moderne Stadt“ bietet zwei Präsentationen, die spezifische Perspektiven aus der Soziologie, Sozialpsychologie und kulturelle Kommunikationen vertreten. Gerrit Retterath (Universität Kassel / Kulturzentrum Schlachthof) wird Graffiti in seinem modernen urbanen Kontext diskutieren und dabei die prekäre Grenze zwischen „Graffiti als Kunst“ und „Graffiti als Devianz“ betonen. Ausgehend von seiner Arbeit in verschiedenen Kulturprojekten wird er Graffiti als etwas darstellen, das ein Stadtviertel prägen, aber auch zu Konflikten führen kann. Claas Pollmann (TU Chemnitz) wird seine Forschungen zur Wahrnehmung ideologischer Graffiti vorstellen und erörtern, wie politische Graffiti wahrgenommen werden und wie diese Interpretationen die Bewertung von Stadtteilen und deren Bewohner:innen in Bezug auf Sicherheit und „Lebensqualität“ maßgeblich beeinflussen können.

Gerrit Retterath ist bekennender Graffiti- und Streetart-Lobbyist. Dabei interessiert ihn besonders, wie Kunst im öffentlichen Raum eine Stadt verändern und mitgestalten kann. Er ist Projektleiter des Nachbarschafts-Kunstprojektes „Hier im Quartier“ am Kulturzentrum Schlachthof in Kassel und promoviert an der Universität Kassel im Fachgebiet Soziologische Theorie zu „Praktiken des Teilens“.

Claas Pollmanns ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Promotionsstudent an der Professur Sozialpsychologie sowie assoziierter wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZKFS. Er untersucht den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Normen, Bedrohung und Intergruppenkontakt. Außerdem beschäftigt er sich in seiner Forschung mit Kriminalitätsfurcht, Radikalisierung und Extremismus. Er hat in Chemnitz und Leipzig Soziologie studiert.

Zitierte Werke
Bloch, S. 2019. Broken Windows ideology and the (mis)reading of graffiti. Critical Criminology, 28: 703-720.
Keegan, P. 2014. Graffiti in antiquity. London: Routledge.
Lynn, N. und Lea, S.J. 2005. ‘Racist’ graffiti: text, context and social comment. Visual communication, 4(1): 39-63.
Taylor, M.F., Marais, I. und Cottman, R. 2012. Patterns of graffiti offending: towards recognition that graffiti offending is more than ‘kids messing around.’ Policing and Society, 22(2): 152-168.
Temeschinko, J. 2015. Graffiti Writing in Deutschland. Seine Ästhetik und sein sozialer Kontext: “Imagine your name here.” Hamburg: disserta Verlag.
Tophinke, D. 2016. „In den tiefsten Winkeln unserer Betonwälder tanzten die Namen ein farbenfrohes Fest und wir tanzten mit bis in die Morgenstunden“ – Zur praktischen Kultur des Szene-Graffiti. In: Deppermann, A., Feilke, H., und Linke, A. (Hrsg.) Sprachliche und kommunikative Praktiken. Berlin: de Gruyter.